Lindener Entdeckungen im FAUST

Als nun bereits zum dritten Mal im FAUST Schülerinnen und Schüler des 12. Jahrgangs vor Mitschülern, Eltern und Lehrern ihre kreativen Gruppenarbeiten der Februar-Projektwoche präsentierten, hatte das am vergangenen Donnerstag (3.3.2011) für den Beobachter fast schon den Anstrich des Normalen und Selbstverständlichen – dabei ist die Zusammenarbeit mit dem Lindener Kulturzentrum, das in diesem Jahr seinen 20. Geburtstag feiert, nicht einfach selbstverständlich, sondern für die IGS (40 Jahre) ein Glücksfall:

Der manchmal überstrapazierte, geradezu modische Begriff „Vernetzung“ bekommt hier eine ganz konkrete, erfahrbare Bedeutung. Hans-Michael Krüger und Jürgen Liedtke vom FAUST, die auch zur Jury gehörten, führten das Publikum in der gut gefüllten „Warenannahme“ durch das vielfältige Programm der ausgewählten 10 Beiträge (von mehr als 30), die unter dem Motto UNENTDECKTES standen, und holten jeweils die „Macher“ zum verdienten Beifall auf die Bühne.

Eindrücke von der Veranstaltung finden Sie hier in unserer Fotogalerie.

Etliche, höchst unterschiedliche Filme, aber auch Vorträge oder vertonte Diashows luden zu Entdeckungen ein, die thematisch weit gespannt waren. Wenn man etwa aus dem Blickwinkel von Miniaturfiguren Brot als Wüstenlandschaft oder Zigaretten wie ein riesiges, qualmendes Rohr wahrnimmt, fühlt man sich wie auf Gullivers Reisen in einer fremden Welt. Ähnlich überraschend sind die Blicke in die verwaisten Dachböden der beiden Schulgebäude in der Beethovenstraße, die ein verwunschenes Eigenleben zu führen scheinen; und u.a. kam auch der wunderschönen Lehrer-Toilette die Ehre zu, entdeckt zu werden…

Auffällig aber die Mehrzahl von Arbeiten, bei denen Menschen „entdeckt“ werden – oder auch „unentdeckt“ bleiben.

Eine Entdeckung waren die „Helden im Alltag“, z.B. bei der Bahnhofs-Mission, deren Offenheit und Bescheidenheit die interviewenden Schüler/innen sichtlich beeindruckte. Das gilt auch für die blinde junge Frau, die über die täglichen Herausforderungen (ohne Blindenstock, mit dem sie sofort als Behinderte identifiziert würde) ganz entspannt erzählte, während Leonard Röthemeyer im gefilmten Selbstversuch eben jene Hürden (mit Blindenstock) nur mit Mühe meisterte.

Der Vortrag über  Menschen mit Down-Syndrom dagegen lebte weniger von den ohne Zweifel interessanten Bildern und Informationen über Trisomie 21, sondern von dem persönlichen Bericht Stephanie Heins, die aus ihrer Familie eigene Erfahrungen mitbringt: Da – das merkte der Zuhörer sehr schnell – erzählte eine junge Frau gleichzeitig berührend und selbstbewusst vom Leben, die dessen Extreme des Leides und der Freude schon intensiv kennengelernt hat. Etwas davon spiegelte sich auch in den bemerkenswert gut fotografierten Gesichtern wider, die zu „Unentdeckten Lebensmelodien“ zusammengestellt wurden; hier nahm nicht nur das Optische gefangen, sondern auch die von Lilia Saenger live dazu am Klavier vorgetragenen „Melodien“, ihre eigene (!) Musik – teils melancholisch perlend, teils auch schmerzlich aufbrausend.

Das Unentdeckbare schlechthin ist der Tod. Der Urfrage nach dem, was nach diesem Tod kommt, stellte sich eine Gruppe auf unterhaltsame, aber nicht nur unernste Weise: Statements von Passanten, Diskussionen im Wohnzimmer, Visionen. Der Teufel im Treppenhaus und der himmlische Engel in den Herrenhäuser Gärten werden in Erinnerung bleiben…

Zwei Beiträge schließlich beschäftigten sich mit dem eigenen oder fremden Ich. Mysteriös entsteigt „Das unentdeckte Selbst“, fast mumienhaft verpackt, langsam seinem Gefängnis in Form einer Truhe, um dann mit seinen dunklen Seiten konfrontiert zu werden; schließlich flüchtet es regelrecht wieder zurück in die Kiste. War dieser Film, sozusagen als Mystery-Thriller, noch konsumierbar, galt das in keiner Weise vom gewagtesten Beitrag des späten Nachmittags, den Zara Freudenberg und Johannes Hoff vorstellten: In „Geheimnisse von Zania“ gab es minutenlang ausschließlich mit unbewegter Kameraeinstellung aufgenommene, einfach nur geradeaus schauende Menschen zu beobachten, sichtbar vom Scheitel bis zur Schulter – und nackt: nicht nur ohne sichtbare Kleidung, sondern ohne Brille, ohne Schminke, ungekämmt, ohne irgendwelche Attribute von gewollter Schönheit, ohne etwas auszudrücken, etwas zu wollen, etwas darzustellen. Eine nach dem anderen ließ sich so anschauen – und das Publikum sollte nach der Vorstellung der Gruppe „entdecken“, vielleicht etwas bisher an den Gefilmten Unentdecktes, mehr aber noch an sich selber und seinen Gefühlen bei der Konfrontation mit dem „nackten“ Gegenüber. Eine großartige Leistung der Gruppe – die allerdings auf die erhofften verbalen Reaktionen der Zuschauer verzichten musste: Für die eigene emotionale Verwirrung die geeigneten Worte zu finden, und das vor so vielen Menschen, war dann doch zu schwer.

Bei allen Beiträgen, auch bei den nicht im FAUST präsentierten (die Auswahl war halt nötig und hätte auch eine andere sein können), war spürbar, dass sie Produkt eines sowohl konzeptionellen als oft auch künstlerischen Gruppenprozesses waren – ein deutlicher Hinweis für den Erfolg des „Seminarfaches“ im 12. und 13. Schuljahr, das u.a. eben diese Fähigkeit zur Teamarbeit zum Inhalt hat. Die anwesenden Kolleginnen und Kollegen, die mit großem Engagement dieses Fach betreuen und die Projektwoche organisiert haben (stellvertretend seien hier Stufenleiter Walther Engel und Koordinatorin Brigitte Hüther genannt), dürften zufrieden gewesen sein. Ein anregender Nachmittag war‘s auf jeden Fall. Man darf schon jetzt auf das nächste Jahr gespannt sein.

(M.A.)