Ihre Geschichte heißt schlicht Schnee – und sie hat die Jury des diesjährigen HAZ-Schreibwettbewerbs überzeugt: Anna Yola Darmstädter (8a) bekam in der Altersgruppe der Klassen 7-9 den 3. Preis zugesprochen. Bereits vor zwei Jahren – im 6. Jahrgang – war Anna Yola mit einem 2. Preis erfolgreich. Herzlichen Glückwunsch!
Und hier ihre Geschichte:
SCHNEE
Ich erspähte ihn, als er aus einer Bibliothek geschlendert kam. Fast hätte ich ihn nicht erkannt. Mein Freund sah verändert aus. Natürlich, wir waren uns jahrelang nicht begegnet. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er 14 und ich 13. Vor einem Monat feierte ich meinen 17ten Geburtstag, daraus schloss ich, dass er 18 war. Seine schlaksige Gestalt war in eine Jeanshose und einen Strickpullover mit Norwegermuster gehüllt. Das blonde kurzgeschnittene Haar war so verwuschelt, dass es in jede existierende Richtung abstand. Außerdem verzierten Bartstoppeln sein kindliches Gesicht.
Früher im Kindergarten machten wir jeden Tag etwas miteinander. Schnee mochten wir am liebsten. Wir spielten dann, dass wir allein auf der Welt waren. Um nicht zu verhungern mussten wir auf den Schnee zurückgreifen. Wir steckten unsere Zungen in den Schnee und aßen ihn wie Katzen. Für den Schnee bauten wir Vorratskammern aus Sand und Ästen. Damit niemand unsere Vorratskammer plündern konnte, beseitigten wir sämtliche Sandspielzeuge. Schließlich nahm uns eine Erzieherin gegen unseren Willen mit rein. Sie setzte uns in Decken eingewickelt nebeneinander auf ein Sofa. Meistens wurde Anton nach einer Weile langweilig, dann zog er mir an den Haaren oder trat mich. Daraufhin fing ich an zu weinen.
Als wir dann in die Schule kamen, waren Schneeballschlachten total angesagt. Wir pressten den Schnee zwischen unseren kindlichen Händen zu festen Kugeln zusammen. Anschließend beschmissen wir unser Gegenüber bis jemand weinte. Wenn er mich zum Weinen gebracht hatte, kündigte ich ihm die Freundschaft. Doch schon nach geringer Zeit vertrugen wir uns wieder.
Unser Verhältnis änderte sich, als wir in die dritte Klasse kamen. Auf einmal waren Jungs ekelig, und wer etwas mit ihnen machte, war in sie verliebt. Ich lästerte mit meinen Freundinnen über Anton, damit sie keine falschen Schlüsse zogen. Doch schon kamen solche Sprüche wie „Ei, ei, ei, was sehe ich da ein verliebtes Ehepaar.“ In der Sechsten ebbte dieses kindliche Gehabe ab. In der Siebten kamen wir schließlich zusammen. Wir stapften händchenhaltend durch den Schnee. Die Bäume sahen so schön aus. So unwirklich, wie aus einem Märchen. Und der Prinz befreite die Prinzessin. Manchmal, wenn das Glück einfach zu groß war, ließ ich mich lachend in den Schnee plumpsen. Ich machte Schneeengel, wie ich sie zur Grundschulzeit gerne gemacht hatte. Alles war perfekt, zumindest bis Antons Eltern beschlossen wegzuziehen.
Ich war mit zum Flughafen gefahren, um mich von Anton zu verabschieden. Er drückte mich an sich. Während er sich von mir verabschiedete, liefen ihm Tränen über die Wangen. Ich brachte nur ein einfaches „Tschüss“ heraus. Dann war er auch schon im Flugzeug verschwunden und ich war allein.
Und jetzt nach so vielen Jahren sah ich ihn wieder. Ich fuhr mit meiner Hand über das Autodach eines olivgrünen Opels. Aus dem aufgehäuften Schnee formte ich einen Schneeball. Diesen schmiss ich auf den ahnungslosen Anton. Ich verfehlte ihn um Haaresbreite, obwohl er nur zwei Meter vor mir stand. Anton drehte sich um. „Hey Luisa, du wirfst ja immer noch nicht besser als früher.“ „Was machst du denn hier?“ fragte ich ohne auf seine Stichelei einzugehen. „Ich bin wieder hierher gezogen. Scheiße ey, ich hab dich voll vermisst.“ Er schloss mich in seine Arme. Auf einmal drückte er mir einen Schneeball ins Gesicht. Ich blinzelte durch den Schnee auf meine Wimpern, und sah, wie Anton ein Lachen unterdrückte. „Na warte!“ Ich bückte mich.